An dieser Stelle des halb vollzogenen Kreislaufs
könnte die Künstlerin Maria C. P. Huls eingreifen,
ein verhältnismäßig sehr kleines Stück
entnehmen und eine ideell vorgefasste Form aus diesem unter
geologischen Gesichtspunkten winzigen Monolithen herausmeißeln.
Huls betont immer wieder selbst ihre Faszination und ihren Respekt
dafür, dass sie Wochen oder Monate an einem Stein arbeitet,
der vorher viele Millionen Jahre zur Entstehung gebraucht hat.
Der unfassliche Gegensatz zwischen dem Naturmaterial und dem
künstlerischen Produkt einer Skulptur besteht allerdings
nicht nur in dieser zeitlichen Dimension, sondern auch im Zusammentreffen
des Zufalls der Naturprozesse mit dem künstlerischen Willen.
Wir haben bei der Steinbildhauerei zwei völlig gegensätzliche
Entstehungsprozesse vor uns – den ungesteuerten, wenn
auch gesetzmäßigen eines Stoffes und den willentlichen
eines Kunstwerkes zu einer Form.
Im Deutschen gibt es als Oberbegriff für
dreidimensionale Arbeiten der bildenden Kunst den etwas irreführenden
Begriff Plastik. Er ist deswegen unzureichend, da es innerhalb
dieser Gattung zwei handwerkliche Techniken gibt, deren eine
so heißt wie die Gattungsbezeichnung: Plastik und Skulptur.
Plastiken sind alle aufbauenden Techniken, also vor allem Güsse
in Bronze, Eisen, Gips usw., die ein meist aufwendiges Verfahren
und viele Vorstufen bis zum Endprodukt voraussetzen, sich außerdem
nicht selten durch viele künstlerische Neuansätze
auszeichnen. Die Skulptur als abtragendes Verfahren hingegen
kennt immer nur die eine Richtung: Mit jedem Schlag, Schleifen,
Hobeln wird aus dem Ausgangsrohling weniger, egal, ob er nun
aus Holz, Stein oder Eis besteht. Die skulpturale Arbeit ist
unerbittlich: Was weg ist, ist räumlich und figürlich
auf immer verloren. Es gibt kein Mehrstufenverfahren, sondern
nur die direkte Bearbeitung. Das Ergebnis der Skulptur ist dann
vorhanden, wenn die Künstlerin aufhört, am Ausgangsmaterial
zu arbeiten – wohingegen das Umwegverfahren der Plastiker
gerade erst beginnt. Für die skulpturale Arbeit braucht
man bei einem harten Material wie Stein nicht nur sehr viel
Kraft, sondern ein ausgesprochen gutes räumlich-körperliches
Sehen und geschultes handwerkliches Können. Plastiker gibt
es heute noch viele, aber seit dem Tod von Alfred Hrdlicka 2009
findet man in Europa nur noch wenige bekannte Skulpteure von
Rang.
Die Steinskulptur von Maria C. P. Huls
Die Skulpturen von Huls zeichnen sich durch
eine starke Verfeinerung aus. So widersprüchlich sich dies
zunächst anhören mag: Huls erzeugt durch eine hohe
Formstrenge Leichtigkeit, und Strenge wird nicht selten durch
die Rückführbarkeit auf einfache Grundformen erreicht.
In den zahlreichen steinernen „Variationen über das
Quadrat“ von 2006 (Kat.-Nrn. 12 und 13) ist eine mathematische
Formation bereits im Namen enthalten – die Grundform der
jeweiligen Ausführung ist und bleibt das Quadrat. Die aus
dem schwarzen Schiefer gehauenen Reliefpaare evozieren durch
immer neue Stellungen zueinander teils sehr gegensätzliche
Figurationen. Es handelt sich selbstverständlich um dreidimensionale
Werke, nur in der strengen Draufsicht haben wir die beiden Teile
eines Quadrats vor uns. Bei näherem Hinsehen kontrastiert
die Körperlichkeit durch physische Präsenz die Quadratidee.
Die Schauseiten – also die großen Flächen –
sind entsprechend durch vertiefte Flachmeißelspuren und
dadurch hervorgerufene Weißsprenkel als haptische Struktur
hervorgehoben.
Entsprechende Variationen gibt es aber auch
in der dritten Dimension, so im „Variablen Kubus“
von 2017 (Kat.-Nrn. 2 und 7). Die beiden Hälften eines
Würfels mit der Kantenlänge von genau 6,4 cm sind
aus den sehr verschiedenen Stoffen schwarzer Schiefer und weißer
Alabaster gehauen. Die Teile fügen sich in ihren Dreiecksflächen
nicht mit geraden Kantenlinien zu einem Würfel, sondern
sie sind in sich gedreht. Man kann durch die Umstellung dieser
beiden Teile im Raum und aneinander unterschiedliche Figuren
zusammenstellen, die in ihrem mal spitzen, mal bündigen
Charakter nicht viel gemein haben. Die Künstlerin zeigt
das ganze Spektrum an Möglichkeiten, die in der mathematischen
Grundform verborgen liegen.
In ihren Arbeiten auf Papier überträgt
Huls übrigens einige mathematische Ideen ihrer Bildhauerei
in spezifischer Weise in zwei Dimensionen, die der Radierung
bloß zur Verfügung stehen. In ihnen finden sich oft
mathematische Grundformen, die so kombiniert werden, dass sie
individuelle Formationen bilden. Dies gilt für die „Variationen
über das Quadrat“ von 2004 (Kat.-Nrn. 18–22
und 24–25) wie für die „Horizontalen Variationen“
von 2016 (Kat.-Nr. 23). So wie bei der oben besprochenen Skulptur
„Variabler Kubus“ durchzieht die Kombination von
schwarzem mit weißem Stein den Großteil des OEuvres
der Künstlerin. Huls hat sich für den Grundsatz Gegensatz
entschieden. Man mag sich an Yin und Yang erinnert fühlen,
und diese Assoziation ist sicherlich ganz zutreffend, da auch
im Taoismus Harmonie trotz des Dualismus in der Welt gesucht
wird.
Das Gegeneinander der beiden angenommenen Pole
kann aus Sicht des Taoismus zum Krieg genauso führen wie
zur Eintracht – auf die Kombination und das Austarieren
kommt es an! Das berühmte Yin-und-Yang-Symbol (das Taijitu)
umfasst damit die Pole schwarzes Yin (dunkel, weich, kalt, weiblich,
passiv, Ruhe) und weißes Yang (hell, hart, heiß,
männlich, aktiv, Bewegung), allerdings in harmonischer
oder besser: sich bedingender und aufwiegender Verschränkung.
Genau diese Waage finden wir in der Skulptur
„In Balance II“ (Kat.-Nr. 9), die Huls 2013 schuf.
Bei dieser Arbeit ist es ihr gelungen, zwei besonders schwere
Steinteile aus weißem Marmor und schwarzem Dolerit (die
Seitendimensionen haben immerhin 34 cm!) so zu bearbeiten, dass
sie ein perfekt ausbalanciertes Ganzes ergeben, das in der Seitenansicht
zudem eine weitschwingende Kurve bezeichnet. Die weiße
Hälfte liegt auf der schwarzen, beide ergeben zusammen
einen trapezförmigen, zu den vier Ecken hin weit herausragenden
Gesamtkörper, der nur einen minimalen Standpunkt hat, der
in dieser kaum fasslichen Zuspitzung die gesamte Form halten
muss. Die Elemente der Natur – Masse, Anziehungskraft,
Dunkelheit, Helligkeit – sind in diesem Werk in ideeller,
ästhetischer und körperlicher Hinsicht so aufeinander
abgestimmt, dass trotz dieser normalerweise hochgradigen Widerstreitigkeit
Harmonie im wahrsten Sinn auf die Spitze getrieben ist. Für
dieses Prinzip der gegensätzlich-harmonischen Paarbildung
– ob als Lagerung oder Stellung zueinander – finden
wir Variationen in den Skulpturen „Um und um“ von
2000 (Kat.-Nr. 10), „Kubisches Paar“ von 2008 (Kat.-Nr.
14) und „Quadratische Verschiebung“ von 2017 (Kat.-Nr.
11). Diese Doppelskulpturen zeigen stets die exakt gleiche Ausführung
der beiden Teile, die nur in ihrem jeweiligen Material und damit
in ihrer Farbe ihren – dafür umso stärkeren
– Gegensatz finden.
In anderen skulpturalen Werken zielt Huls nicht
durch Paarungen, sondern durch die Abstimmung der Elemente auf
Harmonie ab. Huls findet diese in der „Horizontalen Variation
III“ von 2016 (Kat.-Nr. 15) beispielsweise durch die Umsetzung
des goldenen Schnitts. Die obenliegende schwarze Schieferfläche
als größerer Teil des goldenen Schnitts trifft sich
mit der untenliegenden weißen, kleineren Marmorfläche
in einem Zwischenraum aus durchscheinendem Alabaster. Mit dieser
Arbeit haben wir ein weiteres Motiv der Kunst von Huls vor uns
– den Einbezug von Licht und die Arbeit mit transluzentem
Material. Geschickt verwendet die Künstlerin solche halbdurchlässigen
Partien, so dass Licht zur sichtbaren Strategie der Vergeistigung
des Steins wird. In höchster Präzision werden beispielsweise
in „Licht in Dunkel“ von 2016 (Kat.-Nr. 1) nur Millimeter
breite, tiefe Einlassungen aus dem schwarzen Marmor herausgearbeitet,
in die exakt passgenaue Alabasterscheiben eingefügt werden.
Der schwarze Stein mit grober Oberfläche wird auf diese
Weise mit durchscheinendem Licht in seiner Schwere relativiert
– das funktioniert erstaunlicherweise auch bei weißem
Marmor („Licht in Licht“ von 2017, Kat.-Nr. 17).
Siehe zu diesem Gestaltungselement auch „Gehoben I“
von 2013 und „Licht-Erhöhung“ von 2015 (Kat.-
Nrn. 8 und 4). Eine besondere Wirkkraft entwickelt die Transluzenz
von Alabaster in dem Werk „In-Halt“ von 2012 (Kat.-Nr.
3), bei dem ein exakt eingepasster weißer Kern in einer
gedrehten und breiten Doleritfläche Helligkeit durch das
Dunkel lässt.
Das Geistige in der Steinbildhauerei
Dieser inhaltliche Dualismus im Werk von Huls
findet seine Entsprechung auf der handwerklichen Ebene –
und dies gilt für die Steinbildhauerei im Allgemeinen.
Es gibt wohl keine andere künstlerische Technik, die so
staubig, körperlich anstrengend und laut ist wie sie. Besieht
man die feinen, meist perfekt polierten Ergebnisse, bekommt
man den im wahrsten Sinn dieses Wortes steinigen Weg von der
Herauslösung aus der Natur über die Bearbeitung kaum
mit der fertigen Skulptur in Deckung. Vielleicht extremstes
Beispiel ist Gian Lorenzo Berninis Figurengruppe „Apoll
und Daphne“ (1622–25), deren feine Ausformung vor
allem des Blätterwerks, in das sich Daphne gerade verwandelt,
sowie der zarten Figürlichkeit das Material und den anstrengenden
Arbeitsprozess völlig vergessen macht. Prozess und Produkt
erzeugen in ihrer wesentlichen Gegensätzlichkeit eine Spannung,
von der der Reiz solcher Arbeiten lebt.
Man muss als Steinbildhauer nicht so weit gehen
wie Michelangelo, der den ganzen Winter 1505 / 06 in den Steinbrüchen
von Carrara verbrachte, um den Abbau und den Transport der Marmorsteine
für das Grabmal von Papst Julius II. unter extrem widrigen
Bedingungen zu überwachen. Aber Huls steht für ebendieses
Extrem. Auch sie verbrachte (1984 / 85 für neun Monate)
viel Zeit in den Steinbrüchen von Carrara. Die Künstlerin
findet sich durch ihre Arbeit in der Auseinandersetzung mit
dem Stein wieder, dem sie ihren Formwillen einprägt, um
am Ende äußerst präzise und wohlproportionierte
Skulpturen zu schaffen. Die Beziehung von Huls zu ihrem Werkstoff
wird von ihr als existenzielle Beziehung gesehen. In einer früheren
Schaffensphase hatte sie noch an Holzblöcken gearbeitet,
erkannte aber bald, dass ihr das Material zu wenig Widerstand
bietet. In einem Gedicht beschreibt sie ihre endgültige
Berufung zur Steinbildhauerei wie einen berückenden Liebesakt:
der Stein des Anstoßes
ein Sandstein
zum ersten Mal
gehauen
in einem Schafstall
in der Eifel
Stein hauen
Bild hauen
an diesem Tag
neun Stunden
statt Müdigkeit
Energie
Liebe
Klarheit
Begeisterung
Ruf
den Weg gehen
Bildhauerin werden
Der Gegensatz von Material der gröbsten
Art und Eleganz des verarbeiteten Kunstwerks beschreibt den
Weg der Sublimierung. Sublimierung (lat. „schwebend“,
„hoch in der Luft befindlich“, „erhaben“)
entspricht der Erhöhung, Verfeinerung oder auch der Verbesserung
des Vorgefundenen. In der Chemie bezeichnet die Sublimation
einen Phasenübergang, die Änderung eines Aggregatzustands.
Der nach diesem Prozess gasförmige Stoff bleibt dabei chemisch
unverändert, wird aber (in die Luft) erhoben. In der Psychologie
bezeichnet Sublimierung die Transformation körperlicher
Energien (zum Beispiel, und bei Sigmund Freud sogar vornehmlich,
des sexuellen Triebs) in kulturelle Leistungen. Sublimierung
bezeichnet die Transformation von naturgegebenen, nicht vom
menschlichen Willen geschaffenen Kräften und Stoffen in
gewollte Formen. Objekte werden im besten Sinn dieses Wortes
subjektiv geprägt, Natur nimmt die Form des menschlichen
Willens an.
Das ist der Vorgang, den auch Hegel ausführlich
beschreibt: die Selbstbewusstwerdung der Welt durch den Menschen.
Die zunächst fremd und gefährlich erscheinende Natur
hat der Mensch im Lauf der Geschichte immer mehr im Griff und
drückt ihr seinen Stempel auf. Natur wird umgepflügt
und dadurch menschlich. Hegel hat für diesen dialektischen
Vorgang im Großen wie im Kleinen den schönen Begriff
der Aufhebung gefunden. „Nun aber ist die Natur eben nicht
ein Festes und Fertiges für sich, welches somit auch ohne
den Geist bestehen könnte, sondern dieselbe gelangt erst
im Geist zu ihrem Ziel und ihrer Wahrheit, und ebenso ist der
Geist an seinem Teil nicht bloß ein abstraktes Jenseits
der Natur, sondern derselbe ist wahrhaft und bewährt nur
erst als Geist, insofern er die Natur als aufgehoben in sich
enthält.“ —
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen
Wissenschaften, Teil I: Wissenschaft der Logik (= Bd. 8 v. ders.:
Werke, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel), Frankfurt
/Main 41995, S. 204.—
Die Zustandsveränderung des natürlich Gegebenen (des
Objektiven) durch den Geist (durch das Subjektive), führt
Hegel weiter aus, heißt Aufhebung, und zwar im dreifachen
Sinn dieses Begriffs: Das Alte wird durch die Bearbeitung des
Geistes aufgehoben im Sinn der Negierung. Dieses geistige Produkt
hebt aber das Alte gleichzeitig in sich auf (im Sinn einer Aufbewahrung),
und: Das Produkt des Geistes erhöht das Alte zu einer neuen
Qualität, hebt es sozusagen auf eine neue Stufe. Dieser
Vorgang, der grundsätzlich zum sozialen Geschehen gehört,
hat seinen besonderen Ausdruck in der Kunst, in der ein Mensch
das Natürliche bearbeitet, somit das Vorfindliche vergeistigt
und sich das Fremde zu eigen macht.
Ganz in diesem Sinn müssen wir uns den
Skulpturen von Huls nähern. In einem Gedicht der Künstlerin
von 2000 können wir gewissermaßen den ästhetischen
Prozess ihrer Kreativität verfolgen (siehe auch den von
der Künstlerin vorgenommenen Drucksatz mit seiner optischen
Verdichtung auf S. 65):
Gedanken
fangen
verdichten
Materie
befreien
enthüllen
Skulptur
Der Geist, der Einfall steht am Anfang, entzündet
sich am Stoff, aus dem die (geistige, körperliche) Figur
herausgeholt wird. Für das Begriffspaar Stoff und Idee
kann man auch Zufall und Wille setzen. Der Stoff in der Natur,
der Produkt einer zufälligen Plattentektonik ist, wird
nach einem geistigen Ideal willentlich zu einer Ausdrucksform
gebildet. Der Kern einer Skulptur von Huls ist damit der Geist,
dessentreffendstes Symbol das Licht ist, weil dieses dem Stoff
des Steins am stärksten entgegengesetzt erscheint. In den
Skulpturen von Maria C. P. Huls kommen diese Pole zur Deckung
und zur harmonischen Vereinigung.
Dr. Christian Walda